Michael G. Fritz

DER NACHRUF AUF MEINE CURRYWURSTBUDE


DER NACHRUF AUF MEINE CURRYWURSTBUDE beginnt mit dem Kasten Bier, einem der letzten im Lager, den ich im KONSUM verkauft habe. Bier war im Sommer immer knapp, an diesem heißen Tag erst recht. Ich half dem Mann beim Tragen, es ging in ein Haus aus der Gründerzeit in den vierten Stock, wo uns seine Frau im Unterrock und mit Zigarette in der Hand empfing, die mir mit der anderen zum Dank die Wange tätschelte, was ich nur widerwillig geschehen ließ. Zurück im Laden, schüttelte die Verkäuferin den Kopf über mich, dass ihre rotgefärbten Locken in Bewegung gerieten: Ich hatte den Kasten Bier herausgegeben, ohne das Pfand zu beachten. Det müssen wa irjendwie varechnen, sagte sie. Wat machen wa nur mit dir? Ich trug einen weißen, viel zu großen Kittel, dessen Ärmel zu kurz geraten waren, so dass ich sie ständig herunterzuziehen trachtete. Die Verkäuferin wollte nicht aufhören, den Kopf zu schütteln. Ich sollte nach dieser Fehleistung Ware auspacken und in die sauber gewischten Regale stapeln. In den Schulferien arbeitete ich für zwei Wochen, ich wohnte am Stadtrand, die Mutter eines Freundes hatte mir diesen Job vermittelt. Im Jahr davor hatte ich bei ENGELHARDT in Stralau leere Bierflaschen in Kisten gefüllt, die ich zu Türmen aufschichtete. Der Direktor empfing mich in seinem Zimmer mit dem Staatsratsvorsitzenden an der Wand und sagte mir eine Karriere in seinem Betrieb voraus, wenn ich mich nach meinem Schulabschluss bei ihm bewerben würde. In dem KONSUM allerdings brächte ich es nicht weit, das wurde mir klar. Ich schlenderte missmutig mit den Händen in den Taschen nach draußen, erreichte die stark befahrene Dörpfeldstraße, hielt an der Currywurstbude im Erdgeschoss einer Kriegsruine. Die oberen Stockwerke existierten nicht mehr, die grauen Häuserfassaden daneben zeigten noch Einschusslöcher und Brandspuren. Auf der Fläche bis zur Kreuzung, an der der S-Bahnhof lag, wuchsen Gras und Birken. Man musste sich bücken, um durch die Öffnung in der Wand, die eine Schiebetür aus Sperrholz verschließen konnte, seine Bestellung anzubringen: ‘ne Currywurst, bitte. Die Antwort hieß: mit oder ohne. Ich verstand nicht und zuckte mit den Schultern, was man auf der anderen Seite der Wand nicht sehen konnte. Die Stimme wurde ungeduldig, jemand hinter mir rief: Mit Kartoffelsalat oder wat? Nein, nein, antwortete ich, froh, das Problem bewältigt zu haben. Die Wurst im Brötchen schmeckte einzigartig. Für die Wurstmasse besaß jeder Fleischer sein spezielles Rezept, ebenso jede Bude ihre eigene Curry-Sauce. Natürlich passte auch nicht das Brötchen irgendeines Bäckers dazu. Ich ging in den hinteren Raum, das Licht fiel gedämpft durch Glasbetonsteine und Drahtglas herein, die Sprelacarttische zierten weiße Plastikdeckchen und winzige Pressglasvasen mit Kunstblumen. Die gesamte Fläche des Buffets bildeten abgegriffene Holzfächer für Besteck; an einem haftete ein Emailleschild mit dem Hinweis: Cuillères. Niemals habe ich in dieser Bude Löffel gesehen. Der Fußboden zeigte sich schwarz und uneben durch Fett, das, jahrzehntelang abgetropft und festgetreten, sich für immer unlösbar mit dem Untergrund verbunden hatte und jene Ausdünstung verströmte, die sich mit der des heißen Öls aus der Küche zu dem unverkennbaren Geruch des Imbisses vermischte. Später lernte ich Jutta kennen, eine etwas kräftige, junge Frau mit einem sanften Gesicht. Sie war meine erste richtige Freundin. Wir kehrten hier ein, manchmal verbrachten wir den frühen Abend damit, an den Stehtischen auf dem Trottoire gelehnt die Passanten zu beobachten. Jutta sollte meine Levi‘s, die ich von einer Tante aus Neukölln geschickt bekommen hatte, kürzen. Da langweilten wir uns schon miteinander, ich küsste sie nur noch aus Gewohnheit. Nach wochenlangem Hinauszögern, erst nach massivem Drängen übergab mir Jutta endlich meine Jeans. Wir verabredeten uns vor der Currywurstbude, sie warf mir die Levi’s gegen die Brust, wortlos, um sofort entschlossen kehrtzumachen, was gar nicht zu ihrem Gesicht passen wollte. Aus dem S-Bahnfenster sah ich zwischen den abgebrochenen Mauerresten das geteerte Pappdach der Bude, von dem Dunst aufstieg, aus dem Schornstein quoll dicker Rauch. Ich studierte in einer anderen Stadt, wurde dort sesshaft, ohne mein Vaterhaus aufzugeben. Die Mauer war längst gefallen, und ich weigerte mich weiterhin, Auto fahren zu lernen, anfangs aus Gründen des Umweltschutzes, dann aus Bequemlichkeit. Ich wurde leidenschaftlicher Nutzer der Mitfahrgelegenheit, natürlich wählte ich, wenn es sich einrichten ließ, die Fahrt übers Adlergestell. Die Currywurstbude stellte für mich die passende Begrüßung der Stadt dar, wodurch ich wieder dazugehörte. Heimat ist dort, wo man angenommen wird und keine Fragen beantworten muss, wo man durch Sprache einfach da ist. ‘Ne Currywurst, bitte. Diese Worte reichten aus. Irgendwann war meine Bude verschwunden. Ich musste eine Weile nicht in dieser Gegend gewesen sein. Die Brachfläche zeigte sich zugebaut von einem stattlichen Gebäudeblock mit Mietwohnungen und einem Laden. Über dem Eingang stand Denns BioMarkt, in dessen Inneren, an wahrscheinlich genau der Stelle, wo sich mein Imbiss befunden hatte, ich an einem Stand wieder Currywurst kaufen konnte. Alles trat mir fremd entgegen, wie ich mir selbst fremd vorkam. Was vom Betreiber als Reminiszenz an den vergangenen Ort gedacht war, machte den Verlust erst recht deutlich.