DER NACHRUF AUF MEINE CURRYWURSTBUDE
DER NACHRUF AUF MEINE CURRYWURSTBUDE beginnt mit dem Kasten
Bier, einem der letzten im Lager, den ich im KONSUM verkauft
habe. Bier war im Sommer immer knapp, an diesem heißen Tag
erst recht. Ich half dem Mann beim Tragen, es ging in ein Haus
aus der Gründerzeit in den vierten Stock, wo uns seine Frau im
Unterrock und mit Zigarette in der Hand empfing, die mir mit
der anderen zum Dank die Wange tätschelte, was ich nur
widerwillig geschehen ließ. Zurück im Laden, schüttelte die
Verkäuferin den Kopf über mich, dass ihre rotgefärbten Locken
in Bewegung gerieten: Ich hatte den Kasten Bier herausgegeben,
ohne das Pfand zu beachten. Det müssen wa irjendwie varechnen,
sagte sie. Wat machen wa nur mit dir? Ich trug einen weißen,
viel zu großen Kittel, dessen Ärmel zu kurz geraten waren, so
dass ich sie ständig herunterzuziehen trachtete. Die
Verkäuferin wollte nicht aufhören, den Kopf zu schütteln.
Ich sollte nach dieser Fehleistung Ware auspacken und in die
sauber gewischten Regale stapeln. In den Schulferien arbeitete
ich für zwei Wochen, ich wohnte am Stadtrand, die Mutter eines
Freundes hatte mir diesen Job vermittelt. Im Jahr davor hatte
ich bei ENGELHARDT in Stralau leere Bierflaschen in Kisten
gefüllt, die ich zu Türmen aufschichtete. Der Direktor empfing
mich in seinem Zimmer mit dem Staatsratsvorsitzenden an der
Wand und sagte mir eine Karriere in seinem Betrieb voraus,
wenn ich mich nach meinem Schulabschluss bei ihm bewerben
würde. In dem KONSUM allerdings brächte ich es nicht weit, das
wurde mir klar. Ich schlenderte missmutig mit den Händen in
den Taschen nach draußen, erreichte die stark befahrene
Dörpfeldstraße, hielt an der Currywurstbude im Erdgeschoss
einer Kriegsruine. Die oberen Stockwerke existierten nicht
mehr, die grauen Häuserfassaden daneben zeigten noch
Einschusslöcher und Brandspuren. Auf der Fläche bis zur
Kreuzung, an der der S-Bahnhof lag, wuchsen Gras und Birken.
Man musste sich bücken, um durch die Öffnung in der Wand, die
eine Schiebetür aus Sperrholz verschließen konnte, seine
Bestellung anzubringen: ‘ne Currywurst, bitte.
Die Antwort hieß: mit oder ohne.
Ich verstand nicht und zuckte mit den Schultern, was man auf
der anderen Seite der Wand nicht sehen konnte. Die Stimme
wurde ungeduldig, jemand hinter mir rief: Mit Kartoffelsalat
oder wat?
Nein, nein, antwortete ich, froh, das Problem bewältigt zu
haben.
Die Wurst im Brötchen schmeckte einzigartig. Für die
Wurstmasse besaß jeder Fleischer sein spezielles Rezept,
ebenso jede Bude ihre eigene Curry-Sauce. Natürlich passte
auch nicht das Brötchen irgendeines Bäckers dazu. Ich ging in
den hinteren Raum, das Licht fiel gedämpft durch
Glasbetonsteine und Drahtglas herein, die Sprelacarttische
zierten weiße Plastikdeckchen und winzige Pressglasvasen mit
Kunstblumen. Die gesamte Fläche des Buffets bildeten
abgegriffene Holzfächer für Besteck; an einem haftete ein
Emailleschild mit dem Hinweis: Cuillères. Niemals habe ich in
dieser Bude Löffel gesehen. Der Fußboden zeigte sich schwarz
und uneben durch Fett, das, jahrzehntelang abgetropft und
festgetreten, sich für immer unlösbar mit dem Untergrund
verbunden hatte und jene Ausdünstung verströmte, die sich mit
der des heißen Öls aus der Küche zu dem unverkennbaren Geruch
des Imbisses vermischte.
Später lernte ich Jutta kennen, eine etwas kräftige, junge
Frau mit einem sanften Gesicht. Sie war meine erste richtige
Freundin. Wir kehrten hier ein, manchmal verbrachten wir den
frühen Abend damit, an den Stehtischen auf dem Trottoire
gelehnt die Passanten zu beobachten. Jutta sollte meine
Levi‘s, die ich von einer Tante aus Neukölln geschickt
bekommen hatte, kürzen. Da langweilten wir uns schon
miteinander, ich küsste sie nur noch aus Gewohnheit. Nach
wochenlangem Hinauszögern, erst nach massivem Drängen übergab
mir Jutta endlich meine Jeans. Wir verabredeten uns vor der
Currywurstbude, sie warf mir die Levi’s gegen die Brust,
wortlos, um sofort entschlossen kehrtzumachen, was gar nicht
zu ihrem Gesicht passen wollte. Aus dem S-Bahnfenster sah ich
zwischen den abgebrochenen Mauerresten das geteerte Pappdach
der Bude, von dem Dunst aufstieg, aus dem Schornstein quoll
dicker Rauch.
Ich studierte in einer anderen Stadt, wurde dort sesshaft,
ohne mein Vaterhaus aufzugeben. Die Mauer war längst gefallen,
und ich weigerte mich weiterhin, Auto fahren zu lernen,
anfangs aus Gründen des Umweltschutzes, dann aus
Bequemlichkeit. Ich wurde leidenschaftlicher Nutzer der
Mitfahrgelegenheit, natürlich wählte ich, wenn es sich
einrichten ließ, die Fahrt übers Adlergestell. Die
Currywurstbude stellte für mich die passende Begrüßung der
Stadt dar, wodurch ich wieder dazugehörte. Heimat ist dort, wo
man angenommen wird und keine Fragen beantworten muss, wo man
durch Sprache einfach da ist. ‘Ne Currywurst, bitte. Diese
Worte reichten aus.
Irgendwann war meine Bude verschwunden. Ich musste eine Weile
nicht in dieser Gegend gewesen sein. Die Brachfläche zeigte
sich zugebaut von einem stattlichen Gebäudeblock mit
Mietwohnungen und einem Laden. Über dem Eingang stand Denns
BioMarkt, in dessen Inneren, an wahrscheinlich genau der
Stelle, wo sich mein Imbiss befunden hatte, ich an einem Stand
wieder Currywurst kaufen konnte. Alles trat mir fremd
entgegen, wie ich mir selbst fremd vorkam. Was vom Betreiber
als Reminiszenz an den vergangenen Ort gedacht war, machte den
Verlust erst recht deutlich.