Michael G. Fritz

Ein bißchen wie Gott


Michael G. Fritz
Ein bißchen wie Gott
Roman
240 S., geb. mit SchU
Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale) 2015
ISBN 978-3-95462-520-8
Preis: 16,95 €

Cover Ein bißchen wie Gott

Rezensionen


Jetzt legt Fritz einen – was soll man sagen? Thriller, Fantasyroman, ein Biopic vor: "Ein bißchen wie Gott". Darin verknüpft der geborene Berliner und lebende Dresdner geschickt die Befindlichkeiten, die zwischen beiden Städten liegen. Auch wenn die Metropole gleißt, ist die Provinz in manchen Dingen vorzuziehen. Aber welcher Dresdner ließe sich denn so bezeichnen. Auch in diesem Sinne diskutierenswert.

Blitz 15.3.2017


Erzählerisch schweift der Blick immer wieder ab in die Kindheit und Jugend der Protagonistin, auch in ihre frühere Familiengeschichte: Die Großmutter war psychisch krank ("nicht richtig im Kopf") und Johanna wird den Verdacht nicht los, davon "etwas abbekommen" zu haben. Kann sie überhaupt den analog und digital gewonnenen Erkenntnissen über ihren Mann trauen? Zudem lösen diese nicht die Eheprobleme, deren Gründe tiefer liegen als nur in Andrés Untreue, wie mehrfach angedeutet.

Oda Ort der Augen 1/2017


Die aktuelle Präsenz elektronischer Video-Überwachung wird gern mit der religiösen Vorstellung eines alles Sehenden, Allwissenden, also Allmächtigen verglichen. Wie verhält sich der einzelne Mensch vor den Objektiven und vor den Monitoren? Und wie verändert sich die Gesellschaft angesichts ständiger Bilderaufnahme und –speicherung? Erzählerisch schweift der Blick immer wieder ab in die Kindheit und Jugend der Protagonistin, auch in ihre frühere Familiengeschichte: Die Großmutter war psychisch krank, "nicht richtig im Kopf", und Johanna wird den Verdacht nicht los, davon "etwas abbekommen" zu haben.

Glaube und Heimat,Mitteldeutsche Kirchenzeitung Nr. 49, 4.12.2016, 2. Adventstag


Der Roman gibt Raum für Gedanken zum Sinn und Unsinn von Überwachung und dem alten Menschheitstraum, alles unter Kontrolle zu haben – und sein zu wollen wie Gott, jedenfalls ein bisschen.

Evangelische Zeitung, 11.9.16


Wie bei den vorhergehenden Romanen hat auch seine neue Geschichte mit ineinander verwobenen Handlungssträngen nicht nur eine Bedeutungsebene. Tucholskys Mahnung klingt an: Beim Lob technischer Errungenschaften und Gewinne nicht zu vergessen, was uns verlorengeht.

Mitteldeutsche Zeitung 24.8.16


Fritz schreibt glaubhaft und einfühlsam aus der Perspektive Johannas, deren Dienst- und Privatinteressen sich folgerichtig vermischen, wenn sie André weiterhin beobachtet – soweit ihr elektronisch gestütztes Auge reicht.

TAG DES HERRN 28.8.16


Den Bezug zur Überwachung deutet schon der Titel mit der Weitwinkellinse im Buchstaben O des Wortes Gott an. Die Hauptfiguren des Romans, das Ehepaar Johanna und André sind an beiden Enden einer Leitung platziert: Sie kontrolliert am Bildschirm S-Bahnsteige und sieht – Zufall oder nicht – wie ihr Mann eine andre Frau umarmt und küsst. Von diesem Anfang an nimmt die, bereits verzweigt erzählte, Geschichte ihren Lauf.

Verein Deutsche Sprache, infobrief 34/2016


Johanna sieht alles: die kleinen und großen Fehltritte der Menschen, wenn sie sich unbeobachtet glauben, ihr Bangen, ihr Warten, ihr Eilen. Denn sie hat Hunderte, ja Dutzende Augen: All die Kameras, die auf einem großen Berliner Bahnhof installiert sind, senden ihre Aufnahmen auf die Bildschirme in einer Zentrale. Und dort sitzt Johanna und ist ‚Ein bißchen wie Gott'.

Oiger, 24.2.2016


Der Autor vom Jahrgang 1953 spielt in seinem beim Mitteldeutschen Verlag Halle erschienenen Buch damit, wie durch moderne Überwachungsmethoden persönliche Katastrophen ausgelöst werden können. Aber die wären womöglich sowieso eingetreten? Über den geschilderten Fall hinaus weitet sich der Roman auch zu einer Parabel auf die moralischen Grenzen des technisch Möglichen.

Mitteldeutsche Zeitung, 18.3.2016


In schöner Regelmäßigkeit legt der in Dresden und Berlin lebende Schriftsteller Michael G. Fritz etwa alle zwei Jahre einen Roman oder eine Prosasammlung vor. Wie seine früheren Arbeiten auch ist der neue Roman mit dem vielsagenden Titel "Ein bißchen wie Gott" für manche Überraschung gut. Ausgehend von scheinbar Alltäglichem, zieht Fritz seine Leser in den Bann des Geschehens. Dahinter steht eine Erzählkunst, für die die FAZ ihn vor Jahren schon als ‚Geheimtipp unter den deutschen Erzählern' gelobt hat. Immer wieder finden sich bei ihm Erzählstränge, die unerwartet ins Fiktionale, auch ins Surreale münden und so zusätzliche Spannungsräume schaffen.

Thüringer Landeszeitung, 19. September 2015


Fritz hat sich die Frage gestellt: Was könnten die mit Überwachungskameras bestückten Großstadträume mit unseren Beziehungen machen? Durchgespielt hat er das auf originelle Weise in seinem neuen Roman ‚Ein bißchen wie Gott'. … Wie schon in seinen früheren Romanen beweist dieser Autor eine sichere Hand bei der lebendigen Figurengestaltung.

Dresdner Neueste Nachrichteng, 29. September 2015


Das aktuelle Handeln der Hauptfiguren ist mit Rückblenden und Gedankensprüngen verschränkt, die mitunter überraschen, aber nie hektisch sind. Michael G. Fritz ist ein ruhiger Erzähler, der Details gerne genau schildert, um so die Temperatur des Geschehens spürbar werden zu lassen. Nicht zuletzt die Bezüge zu Dresden, einschließlich einer Episode vom 13. Februar 1945, dürften dem Roman ein breites Lesepublikum bescheren.

Sächsische Zeitung, 29. September 2015


In Vor- und Rückblenden wird die familiäre Vergangenheit eerzählt, immer auch verwoben mit der deutschen Geschichte, mit Vor- und Nachkrieg. Immer auch die Beziehung der zwei Städte Dresden und Berlin, die im Privatleben des Autors wie in den Beziehungen seiner Figuren eine große Rolle spielen. … Michael G. Fritz ist ein grandioser Erzähler. Was er aus dieser im Grunde simplen Story macht, ist beeindruckend. Er schafft sinnliche Reize, andauernd riecht und schmeckt man irgendetwas. Oder man hört Rocktitel, die auf die Zeit der Handlung verweisen. Fritz schafft es, Kopfkino zu erzeugen. Man liest, man hört, man riecht. … Fritz, der Zauberer, hat einen kleinen feinen Roman geschrieben.

Neues Deutschland, 13.Oktober 2015


Der Autor erzählt ruhig, verortet mit wenigen Details Gesellscjhaftliches (zuletzt "Adriana läßt grüßen", ID-B 41/12), diskutiert das Thema Überwachung. Der Roman – mit unerwarteten Wendungen und übersinnlichen Momenten – liest sich spannend und flüssig.

ekz.bibliotheksservice, Oktober 2015


‚Ein bißchen wie Gott'. So heißt der neue Roman des Dresdner Schriftstellers Michael G. Fritz, der von einem Familiengeheimnis handelt und virtuos mit den Tücken der medialen Überwachung spielt.

Dresdner Morgenpost am Sonntag, 4.10.2015


Eine Geschichte um Betrug und Eifersucht wäre für Michael G. Fritz zu simpel gewesen. Er verstrickt familiäre Vergangenheit seiner Personen mit mehreren Zeitbildern zu einem Gesellschafts panorama deutscher Kriegs- und Nachkriegsjahrzehnte.

SAX Das Dresdner Stadtmagazin, November 2015


Eingebettet in diese Geschichte erzählt der Roman mit seinen Rückblenden eine Familiensaga über drei Frauengenerationen, über Auswanderung aus OPolen, die innere Ablehnung des Staates DDR und über heutige Widersinnigkeiten. Doch der Leser sei gewarnt: Einmal mehr ist dies ein Roman von michael G. Fritz mit literarischer Sogkraft.

Freie Presse, 11. Dezember 2015


Das Buch erzählt von Frauen, die vor Monitoren auf Berliner Bahnhöfen sitzen, deren Bahnsteige, Treppen und Vorplätze beobachten müssen, um Gefahren, Unfälle oder Übergriffe zu melden und Hilfe herbeizurufen. Eine sieht zufällig, wie ihr Mann eine fremde Frau auf einem bahnsteig küsst. Daraus entwickelt sich eine Geschichte voller Verstrickungen, mit Lebensläufen in jüngst und fern vergangenen Zeiten, ganz unterschiedlichen und bekannten Charakteren.

Lausitzer Rundschau, 26.1.16


Die unterschiedlichsten Charaktere, bekannte und unbekannte Lebensweisen begegnen dem Leser. Dies wird spannend erzählt, mit überraschenden Wendungen. Seine Geschichten sind lebensnah, seine Welt ist uns vertraut und doch überrascht uns der Autor immer wieder neu mit sprachlicher Schönheit. Michael Fritz fesselt den Leser und verlockt zum Nachdenken.

Sächsische Zeitung Hoyerswerda, 27.1.16


Er verzaubert mit seiner Erzählkunst, z.B. mit der Erzählung "Das einsamste Autor der Welt", dem Abschied von seiner Mutter, oder mit der Reportagen "Israel, immer wieder Israel" von seinem Besuch bei Freunden in Nazareth, Bethlehem, am Jordan und in der Wüste, die die DNN Weihnachten 2015 druckte. Sie zeigen einen aufmerksamen, bescheidenen Beobachter und einen bewundernswerten Erzähler. kunstverein-hoyerswerda.de

Kunstverein Hoyerswerda, Januar 2016


Eine Besonderheit dieser Geschichte ist, sie wird aus Johannas Blickwinkel erzählt. Das ist zweifellos ein Wagnis, denn Frauen sehen viele Dinge anders als Männer und beobachten häufig auch genauer. Dass Michael G. Fritz die Wahrnehmungs- und Gedankenwelt seiner Hauptfigur dennoch glaubwürdig gelingt, dürfte nicht zuletzt an seiner eigenen außerordentlichen, den Leser immer wieder verblüffenden Beobachtungsgabe liegen.

OSTRAGEHEGE 78, Heft IV/2015


Leseprobe


Die Fannystraße ist eine stille, kurze Straße, an der dort, wo sie die Spree erreicht, ein Hochhaus aufragt, nicht weit von den Treptowers. Mein neues Büro befand sich im siebten Stock. Ich konnte wegen des dichten Nebels die Oberbaumbrücke stadteinwärts nur erahnen, die viele für die schönste Brücke Berlins halten, über die ich mit meiner Mutter vor dem Mauerbau oft in den Westen gefahren bin. Wir hatten Äpfel aus unserem Garten geschmuggelt, Hasenkopf, die wir polierten und in Kreuzberg auf der Straße verkauften. Nicht einmal die Spree konnte ich nun sehen. Das Warnen der Schiffshörner war das einzige, was ich hin und wieder durch die Fensterscheiben hindurch hörte. Es lag nicht am Nebel, daß ich heute glaubte, endgültig verrückt geworden zu sein, sondern im Gegenteil daran, was ich bald zu sehen bekam. Ich wurde am Morgen auf diesen Platz gesetzt, um für eine Kollegin einzuspringen, die hochschwanger fürs erste pausierte. Der Wechsel war mir nicht unangenehm; wenn man längere Zeit die Aufzüge verfolgt, engt das den Blick ein, es ist, als würde man in den Kabinen mitfahren: rund um die Uhr immer nur hoch und wieder runter, nichts Horizontales und kein Sehen nach draußen. Ein Messingschild verkündete dezent über dem Armaturenbrett: "Dieser Bereich ist videoüberwacht." Es wird zwar gelesen, die Botschaft jedoch scheint niemanden zu erreichen. Die Menschen verhalten sich, als glaubten sie sich unbeobachtet. Die Heizung gab ein leises Sirren ab, was an eine Melodie erinnerte, die Luft war trocken und machte meine Haut sofort spröde, so daß ich Hände und Gesicht eincremte. Leider konnte man die Fenster nicht öffnen. Im Spiegel in der Innenseite des Garderobenschranks überprüfte ich mein Gesicht, die Sommersprossen, über die ich mich sonst ärgerte, zeigten sich erblaßt in dieser Jahreszeit, dafür waren die etwas zu weit hervorspringenden Wangenknochen und die vollen Lippen nicht zu übersehen, die André fleischig nannte, wenn er mir was Nettes sagen wollte. Der Geruch von Kaffee hing im Raum und hielt mich wach. Ich ließ mich in den Bürostuhl zurücksinken, rollte auf dem rotbraunen Linoleum, wechselte damit mühelos von Monitor zu Monitor, während ich von einer jungen Frau mit krausen, roten Haaren eingewiesen wurde, die sich salopp mit ihrem Vornamen, mit Sophie vorstellte. "Johanna", erwiderte ich, indem ich ihr meine Hand entgegenstreckte. "So 'ne Waschküche", meinte sie und deutete mit einer trägen Kopfbewegung zum Fenster. "Wenigstens wir haben den Durchblick." Sie kicherte leise, während sie mit dem Nagel des Zeigefingers am Glas des Monitors schabte und einen winzigen Abdruck hinterließ. Sophie hatte künstliche, leuchtend rosafarbene Fingernägel, die an der Spitze mit Straßsteinen verziert waren, in denen sich das Licht brach. "Pink, sagt man", fiel mir ein, um auf ihren fragenden Blick hin zu erklären: "Deine Nägel." "Gefallen sie dir?" Ich konnte mir nicht vorstellen, wie ich damit im Garten arbeiten sollte. Aber Sophie strahlte so sehr, daß ich sagte: "Ich hab sowas ja nicht. Vielleicht später mal." "Wenn du willst, kann ich dich beraten. Jedenfalls, hier auf die Schließfächer, auf die mußt du achten. Die Schließfächer und Anzeigetafeln, überall, wo sich viel Volk sammelt." Es war das A, das Sophies Herkunft verriet, das A, das sich partout weigerte, sich zu einem sauberen Ton zu öffnen. Andauernd schwang ein anderer Buchstabe mit, ein O oder U. Mich rührte es, hatte meine Mutter nicht genauso gesprochen? die aus Sachsen, genauer aus Dresden zugezogen war, lange vor meiner Geburt. Ich erinnerte mich, zu Hause manchmal sächsische Laute gehört zu haben, die man auf der Straße zu vermeiden hatte, um nicht als Sächsin ausgemacht zu werden. Ich begann mich einzusehen, wie ich es nannte. Ich registrierte nicht nur den Bereich in seinen Dimensionen und mit dem Routinebetrieb, sondern nahm ihn in mich auf, als sei er ein Teil von mir, was übertrieben klingen mochte, aber in einem gewissen Maße zutraf. Selbst geringste Unregelmäßigkeiten konnten im Moment ihres Auftretens bemerkt werden. Von nun an gehörte ich zu denen, die für diesen Bahnhof zuständig waren. Mehrere Monitore, die S- und U-Bahnsteige, Hallenbereiche und einen großen Abschnitt des Vorplatzes mit Straßenbahnhaltestelle und Verkaufsbuden erfaßten, hatte ich mit zwei Kolleginnen im Blick zu behalten. Außerdem gehörte die Tiefgarage mit ihren labyrinthischen Gängen dazu, die allein schon Arbeit zuhauf bedeutete – alles in allem eine beachtliche Aufgabe. Wie immer hatte ich den Eindruck, als nähme ich über den Monitor den Geruch des beobachteten Ortes wahr – eine Fähigkeit, die ich schon früher an mir festgestellt hatte. Ich wußte nicht, wie ich dazu kam, aber ich konnte riechen, was eigentlich aufgrund der Entfernung nicht zu riechen war. Ich nahm es hin: als etwas Besonderes, wie jeder Mensch etwas Besonderes besitzt, ohne Gedanken daran zu verschwenden. In den Fahrstühlen hatte ich einmal einen Weihnachtsmann gehabt, den Jutesack über die Schulter geworfen, in der Hand die Rute. Es roch augenblicklich nach gebrannten Mandeln und Zuckerwatte und – das lag nun wirklich an meiner Herkunft – nach Räucherkerzen, so, wie man sie aus dem Erzgebirge kennt, die im Winter immer im Haus zu sein hatten: Tanne, Weihrauch-Myrrhe. Dem Weihnachtsmann wurde von einem Engel mit weißblondem, wallendem Haar, der mit ihm eingestiegen war, die Maske weggezogen. Der Engel küßte ihn, knöpfte unterdessen seine rote Jacke wie rasend auf, um mit der flachen Hand über seine Brust zu streichen. Dabei knickte ein Engelflügel ab. Als beide freudig erregt die Kabine verließen und zum Lieferwagen hasteten, der Weihnachtsmann mit auf dem Rücken hüpfendem Jutesack, der Engel mit traurig herabhängendem Flügel, mußte ich nicht darüber nachdenken, was sie vorhatten. Warum der Engel dem Weihnachtsmann über die Brust strich? Vielleicht wurde man von Engeln auf diese Weise berührt. Nicht das Handauflegen auf den Kopf, das dirigierende Antippen der Schulter, nein, das Streichen über die Brust, das war's. Viel mehr ließ sich beim besten Willen nicht anstellen, wenn man etwas über zwanzig Sekunden Zeit hat, genauer zweiundzwanzig Sekunden. Ich hatte die Zeit gestoppt, die einem in der Kabine verbleibt vom Schließen der Tür im obersten Stockwerk bis zum Öffnen im Erdgeschoß, vorausgesetzt, der Fahrstuhl hält nirgendwo unterwegs. In der Tiefgarage meinte ich, den Geruch nach Benzin und Abgasen wahrzunehmen, der sich offenbar in die Poren des Betons eingefressen hatte, und zwar für alle Ewigkeit, auf den Bahnsteigen den nach Öl von den Schwellen. Es roch nach Wasser, das sich als allgegenwärtig erwies, sogar unter dem Dach des Bahnhofs in der Luft hing. Ich erkannte André sofort. Mit seinem unnachahmlichen Gang kam er inmitten des Menschenstroms die Stufen hoch auf den Bahnsteig, streifte seine Mütze ab und schlug sie gegen die andere Hand, an der die Aktentasche schaukelte. Das Wasser sprühte ins Gleisbett. Wenn es etwas gab, was mich an Männern reizte, dann war das ihr Gang. Ich hatte ihn auf der Geburtstagsfeier meiner Freundin Olga kennengelernt; ihren fünfundvierzigsten feierte sie ganz groß im Gesellschaftsraum einer Kneipe. Olga lebte wie ihre Mutter in einer Neubauwohnung in Marzahn. Der Vater war in einer Nervenklinik untergebracht, zu der jeder Irrenhaus sagte oder in unserer Gegend schlicht Teupitz. "Paß nur auf, du kommst bald nach Teupitz", war ein geflügeltes Wort, das selbst Kinder benutzten. In diesem idyllischen Ort am See hinter Königs Wusterhausen befand sich die Anstalt.